Trümmerfeld der Eigengeschichtlichkeit
(Die Todesneigung) Sie ist in jeder Art von Resignation enthalten, in jeder Faulheit, in jedem sich gehen lassen – denn wer sich gehen läßt, neigt sich bereits freiwillig dorthin, wo letzendes sein Platz ist. (Jean Améry)
Suizid ist nicht in Gesetzen und Formeln zu verstehen, sondern nur unter Berücksichtigung von persönlichen Wertbezügen: Tradierte Vorgaben, situative Gegebenheiten, individuelle Entscheidungen. (Frei nach Max Weber)
Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen. Wie auch beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört.
(Ludwig Wittgenstein)
Plath im Gehen
Fluß, Wald, Plath
Ich selbst habe es gebaut.
Zelle um Zelle aus einer stillen Ecke,
an dem grauen Papier kauend.
(Sylvia Plath)
Konrad Bayer im Gehen
Eisenbahnstrecke, Konrad Bayer
sagen sie mir doch / muß man über flüsse setzen? /zu welcher stunde? / wo? / sagen sie mir doch / ist da /das Schlachthaus? /die gasanstalt / sehen sie doch / dort oben / hoch oben / aufgehoben /aufgetrieben vom lichtdurchlässigen / Luftstrom / schweben / die Vögel /weder kalt / noch warm / weder gesehen noch gehört / weder das eine noch das / andere / schweben / die Vögel / sehen sie doch / oben / dort / in der höhe…
(Konrad Bayer)
Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.
(Hiob 14,1-2)
Wir sind bedingt, aber wir erleben uns als frei.
(Karl Jaspers)
Laß Hoffnungen fahren und hilf dir selber, solange du es noch kannst, wenn du dich ein wenig selbst lieb hast. Eifer, Kraft, Freundlichkeit, ohne Furcht und Hoffnung (…) wirst du ein glückliches Leben führen, und niemand kann dich daran hindern.
(Marc Aurel)
Suizidant als Kontrahent der Wirklichkeit.
(Frei nach Jean Améry)
Levé im Gehen
Am Ufer, Levé
Herrschen beklemmt mich
Ertragen versklavt mich
Alleinsein befreit mich
Die Hitze erdrückt mich
Der Regen umschließt mich
Die Kälte weckt mich
(Edouard Levé)
Bachmann im Gehen
Abends, Wald, Bachmann
Wir müssen schlafen gehen, Liebster, das Spiel ist aus.
Auf Zehenspitzen. Die weißen Hemden bauschen.
Vater und Mutter sagen, es geistert im Haus.
wenn wir den Atem tauschen.
(Ingeborg Bachmann)
Klaus Mann: Am Wendepunkt
(1940, nachdem Frankreich von den Nazis besetzt wurde) Andere sind endgültig geborgen, nämlich tot. (…) Steht es geschrieben, daß wir alle eines gewaltsamen und bitteren Todes sterben müssen? Mit Ricki fing es an…
Paul Celan: Von Dunkel zu Dunkel
Du schlugst die Augen auf – ich seh mein Dunkel leben.
Ich seh ihm auf den Grund:
auch da ists mein und lebt.
tomber - tombeau - beau
Festhaltend an den Träumen. Niemand wartet auf dich.
(unbekannter Verfasser)
Den Bergpfad entlang,
da zeigen sich bescheiden
die Veilchen im Gras.
(Haiku in einem Lebensratgeber)
Kein Verlust der Kindheit, da sie nie da war:
Kein Fluß, Großvater, Vater,
keine Gerüche, Blicke, Liebkosungen.
Kein Verlust im Hier und Jetzt.
Nur im Sein.
(Aus: Meditation und Depression)
Tränen geweint
am Parkplatz
bei den Containern zur Altglastrennung
(moderner Haiku)
Das was im Leben nicht gelingt, gelingt im Buch.
(dichtertod)
Ernst Toller: Marschlied
Wir Wandrer zum Tode,
Der Erdnot geweiht,
Wir kranzlose Opfer
Zu Letztem bereit.
Wir Preis einer Mutter,
Die nie sich erfüllt.
Wir wunschlose Kinder
Von Schmerzen gestillt,
Wir Tränen der Frauen,
Wir lichtlose Nacht,
Wir Waisen der Erde
Ziehn stumm in die Schlacht.
Plath im Gehen
Spaziergang, Plath
Und wachte auf als irgendwo im Herz der Kontinente
Rauch aufstieg aus offenem Meer
Heißer als tausend Sonnen
Kälter als Marmorherz.
(Sylvia Plath)
Sylvia Plath, Dichtung, Selbstverständnis
Mein Leben, das spüre ich, wird nicht gelebt sein, bis Bücher und Geschichten existieren, die es immer wieder neu aufleben lassen. (Tagebücher)
Ihr Leben und ihr Werk sind so miteinander verknüpft, daß die Frage, ob ihre Texte wegen ihres Lebens so interessant sind oder ihr Leben wegen ihrer Texte, nicht zu beantworten ist. (Jutta Kaußen über Sylvia Plath)
Jessenin im Gehen
Berlin, Wohnhäuser, Jessinin
künftiger Begegnung ist’s Gewähr.
Freund, leb wohl – kein Wort, kein Händegeben.
aber neuer ist auch Leben nicht.
(Sergej Jessenin)
An meinem Todestag – ich werd ihn nicht erleben –
da soll es mittags Rote Grütze geben,
mit einer fetten, weißen Sahneschicht …
Von wegen: Leibgericht.
Mein Kind, der Ludolf, bohrt sich
kleine Dingeraus seiner Nase –
niemand haut ihm auf die Finger.
Er strahlt, als einziger, im Trauerhaus
.Und ich lieg da und denk: „Ach, polk dich aus!“
Dann tragen Männer mich vors Haus hinunter.
Nun faßt der Karlchen die Blondine unter,
die mir zuletzt noch dies und jenes lieh …
Sie findet: Trauer kleidet sie.
Der Zug ruckt an.
Und alle Damen, die jemals, wenn was fehlte,
zu mir kamen: vollzählig sind sie heut noch einmal da …
Und vorne rollt Papa.
Da fährt die erste, die ich damals ohne
die leiseste Erfahrung küßte –
die Matronesitzt schlicht im Fond,
mit kleinem Trauerhut.
Altmodisch war sie – aber sie war gut.
Und Lotte! Lottchen mit dem kleinen Jungen!
Briefträger jetzt! Wie ist mir der gelungen?
Ich sah ihn nie. Doch wo er immer schritt:
mein Postscheck ging durch sechzehn Jahre mit.
Auf rotem samtnen Kissen, im Spaliere,
da tragen feierlich zwei Reichswehroffizieredie
Orden durch die ganze Stadt
die mir mein Kaiser einst verliehen hat.
Und hinterm Sarg mit seinen Silberputten,
da schreiten zwoundzwonzig Nutten –
sie schluchzen innig und mit viel System.
Ich war zuletzt als Kunde sehr bequem.
Das Ganze halt! Jetzt wird es dionysisch!
Nun singt ein Chor: Ich lächle metaphysisch.
Wie wird die schwarzgestrichne Kiste groß!
Ich schweige tief.
Und bin mich endlich los.
(Kurt Tucholsky, LETZTE FAHRT)
Plath im Gehen
Im Park, Plath
unter piksenden Sternen
Mit Starren und mit Fluchen
Die Zeit zu schwärzen.
Lebewohls wurden gesagt, Züge abfahren gelassen,
Und ich, großherzige edle Närrin, bin so herausgerissen
Aus meinem einen Königreich.
(Sylvia Plath)